Kurz nachdem ich die Klasse 4g zu meiner Lieblingsklasse in Musik erklärt hatte, geschah etwas völlig Unerwartetes.
Freitags in der 1. Stunde habe ich Musik in der 4g. Heute früh ging ich also nach oben in diese Klasse, es war noch früh, 10 Minuten zu früh. Ich schloß die Tür auf und setzte mich in den Raum, einige Kinder kamen bereits herein.

Es war kurz vor Stundenbeginn, da öffnete sich die Tür und herein spazierten Leona (10) und Milla (9). Leona hielt einen hübschen kleinen Blumenstrauß in der Hand, Frühlingsblumen, wie frisch vom Feld geholt. Ich wollte beginnen und stand auf – da kam Leona auf mich zu und übergab mir eine kleine Blüte…
Blau, hinter der Knospe vom Stiel abgeknipst, klein aber fein. Sie sagte: „Für dich, Frau Armbrecht!“ Ich nahm die Blüte entgegen und bedankte mich freudig.
Das war eine süße Überraschung! Sie kam so unerwartet und es war eine nette Geste von Leona, mir eine Mini-Blüte von ihrem kleinen Strauß zu schenken, den sie eben noch in den Händen hielt, ich war sehr berührt.
Doch dann, was war das?!

Mit einem Mal schritt die wesentlich kleinere Milla ( Leona ist die größte Schülerin der Klasse) entschlossen auf mich zu und überreichte mir auch eine Blüte …anderer Wuchs …anderes Aussehen, auch in Blau. Hellblau. Wie niedlich!  Ich nahm sie zur anderen dazu und hielt für einen Moment beide zwischen den Finger. Ich genoss den lieblichen Duft, der von ihnen ausging und war ganz beglückt über so viel Schönheit und Zartheit zu Unterrichtsbeginn.

„Danke, Milla, hhm – wie schön!“ kam es von mir.
Milla war entspannt.
Früher war Milla nur auf Reibereien aus. Mir gegenüber war sie extrem misstrauisch gewesen, beständig argwöhnisch drein blickend und sie ließ keine Gelegenheit aus, mich wissen zu lassen, dass aus ihrer Sicht allen meinen Worten nicht zu trauen wäre. Sie war verschlossen, schwierig, skeptisch, oft wirkte sie undurchschaubar. Milla hatte sich mit Vorliebe in unliebsame Diskussionen über alle möglichen Themen geworfen, um sich ihrer unangenehmen Gefühle zu entledigen, die sie umschlungen.
Milla war Meisterin darin gewesen, anderen die Schuld zuzuweisen, durch Worte wie durch Gesten. Mit ihrem Blick konnte sie andere, die ihrer vorwurfsvollen Haltung nichts entgegen zu setzen wussten, völlig aus der Fassung bringen, ja, Milla wusste um die Kraft ihrer (hochgespielten) Enttäuschung und Entrüstung, um Dramen zu schaffen, welche ihr das Gefühl von Macht gaben.
Offenbar war sie früh von ihrem Weg abgebracht worden, diese auf andere Weise zu generieren. Macht (positive Macht) entsteht dort, wo wir in engen Kontakt mit unserem Inneren sind, ja, mehr noch, wo wir uns dafür entscheiden, uns von unseren guten Gefühlen leiten zu lassen.

Ich vergleiche es mit einem Navi – unser wundervolles Leitsystem, welches uns zu unseren angenehmen Gefühlen wie Begeisterung, Eifer, Glücklich sein oder Liebe und Freude führt.
Dieser Navi hatte bei Milla einen Kurzschluss erlitten.
Zuviel war auf Milla nieder geprasselt, dem sie zu folgen hatte. Ansprüche und Wünsche von Eltern, Lehrern und anderen…( “Sei nicht so albern!”, “Kümmer dich mehr um mich als deine Mutter, um deinen kleinen Bruder, um deine Oma! “), die es unmöglich machten, ihrem Wunsch nach Wohlgefühl – dieser leisen inneren Stimme von “Ja, im Matsch spielen macht Spaß! ” oder “So gern würde ich jetzt unserem Hund das Fell kraulen, das fühlt sich immer mega weich an, anstatt Mama beim Kartoffel schälen helfen zu müssen! ” – nachzugehen.

Somit waren Entrüstung und Enttäuschung, demonstrativ geäußert, Millas Waffe, damit hatte sie bisher punkten können und ihr Gegenüber im Zaum halten können.
Ich beschreibe Milla auf diese Weise nur deshalb so ausführlich, weil sie für die Schüler steht, die schon früh mit dem Leben zu kämpfen beginnen. Es ist ihr einziger Ausweg aus
dem Sich-nicht-entfalten-können zu denen, die sie wirklich sind. Zu denen, die sie ihrer wahren Natur nach sind – Liebende. Sie befinden sich in größter Not, noch dazu von denen abgewertet, von denen sie Hilfe erwarten. Wie viele sind ohne Verständnis, welch` große Pein in solchen Kindern vor sich geht. All das Einmischen von Milla in Diskussionen galt dem Versuch, sich zu angenehmeren Gefühlen aufzuschwingen… Blasen wir Trübsal oder sind umfangen  von Hass und Neid und vielen anderem mehr, gelingt es kaum, von heut` auf morgen sich zu Lachen, Spass und Vergnügen emporzuschwingen. Hierher gelangen wir nur stufenweise, denn so etwas lässt sich nur stufenweise erfahren. (Diesem und ähnlichen Themen  widme ich meine Blogartikel auch in Zukunft.)
Während des Musikunterrichts machte ich einfach einen Bogen um Milla, um ihre negative Energie zu meiden.

Einmal erlebte ich Millas Mutter, wie sie in das Lehrerzimmer trat, um eine Kollegin zu treffen, von der sie sich einen Hinweis erhoffte in einer bestimmten Angelegenheit. Mir fiel lediglich auf, dass diese Frau ungefragt in das Lehrerzimmer trat, um dort lautstark, missmutig und schlecht gelaunt sich nach meiner Kollegin zu erkundigen, welche sodann aus dem Nachbarraum trat ( dieser hat eine gläserne Tür), um mit ihr zu sprechen.

Milla war also diejeinige , die mir in jeder Musikstunde aufs Neue erklärte: > Mary Poppins at school, diese Welt ist schlecht und ich bin eine der Ersten, die das immer wieder zu vermerken hat! <

Doch hatte ich ja diese Klasse mittlerweile zu meiner liebsten erklärt, die anderen Kinder hatten sich so prächtig entwickelt!

Milla schenkte mir Blumen.

Es war eine unendlich sanftmütige Geste, die von Milla ausging. Eine Geste voller Nachgiebigkeit und Freundlichkeit.

Blume, Blümchen, Blau

Sie wirkte plötzlich zufrieden und fröhlich, so hatte ich sie noch nie gesehen. Milla strahlte Liebe, Freude und Schönheit aus in diesem Moment.

Sie ist ein wundervolles Mädchen, blond – ein wenig frech sieht sie schon aus.
Man kann sagen, sie ist zu neuem Leben erwacht.
Sie hat sich geöffnet ihrem inneren Wesen gegenüber …
Eine Zeit lang wirkte sie wie eine der unglücklichsten Schülerinnen an dieser Schule, doch Milla hatte ihren wahren Kern entdeckt, sie hatte zu ihrer natürlichen Lebenskraft zurückgefunden, die Energien waren ins Fliessen geraten bei Milla.
Göttliche Qualitäten, die es für uns alle zu entfalten gilt, leuchteten auf wie Frieden — Freude — Mut — Harmonie — Liebe —Entzücken. All diese schimmerten hervor wie ein kostbarer Diamant, der ihre innere Göttlichkeit symbolisierte, was für ein leuchtender Moment!
Damit hatte sie so etwas Gewinnendes und ihre Natürlichkeit und Echtheit hatten etwas ganz Bezauberndes, ich werde diesen Moment so schnell nicht vergessen!

Du solltest der Welt öfter Blumen schenken, das steht dir so gut, liebe Milla!
Danke schön!